irische Literatur: Die Irische Renaissance

irische Literatur: Die Irische Renaissance
irische Literatur: Die Irische Renaissance
 
Die Irische Renaissance am Ende des 19. Jahrhunderts findet in englischer, nicht in gälischer Sprache statt. Sie verdient dennoch diese Bezeichnung, da sie die Rückbesinnung auf irische Traditionen und die Wiederbelebung uralter irischer Mythen und Legenden bedeutet. Dieses sprachliche und kulturelle Dilemma der irischen Autoren nicht nur jener Epoche ist ein Reflex der leidvollen Geschichte Irlands. In dem Maße, wie gälische Sprache und Dichtung von den Engländern unterdrückt wurden, blühte die englischsprachige Literatur in Irland seit dem 18. Jahrhundert auf. Nunmehr kann von einer anglo-irischen Dichtung die Rede sein - einer Dichtung, die sich irischer Traditionen bedient und Irisches thematisiert. Doch erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erreicht die anglo-irische Literatur mit den Dichtern der »Irischen Renaissance« den Rang einer Weltliteratur. Unter diesen ragen vor allem William Butler Yeats und John Millington Synge hervor.
 
Die literarischen Aktivitäten dieser Gruppe junger und begeisterungsfähiger Patrioten sind als die künstlerische Ergänzung des politischen Kampfes um die Unabhängigkeit Irlands zu betrachten. Endlose Demütigungen und die fürchterliche Hungersnot der Jahre 1845 bis 1849, der etwa eine Million Iren zum Opfer fiel und die etwa zwei Millionen Menschen zur Auswanderung vornehmlich in die USA zwang, führten im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer politischen Radikalisierung, die sich schließlich nicht mehr mit der Home Rule - einer begrenzten Autonomie - begnügte, sondern Unabhängigkeit forderte. In dieser nationalen, ja nationalistischen Bewegung spielte die Rückbesinnung auf die eigene Geschichte und kulturelle Leistung von Anfang an eine wichtige Rolle. Vereinigungen wie die National Literary Society (1892 gegründet) und die Gaelic League (1893 gegründet) boten den für die irische Sache engagierten Autoren ein Forum für ihre Ideen und eine Basis für ihre Aktionen.
 
In diesen Zirkeln bewegte sich William Butler Yeats von Anfang an als einflussreiches Mitglied und als Mitbegründer. Von seinen zahlreichen Essays, Dramen und Dichtungen haben allein seine Gedichte die Zeitenprobe bestanden. Diese sind sein wichtiger, bleibender Beitrag zur englischsprachigen Literatur. Von den ersten frühen lyrischen Versuchen bis zu seinen späten Meisterwerken bereichern irische Themen seine Texte und bevölkern irische Gestalten seine Dichtung. Gleich ob Yeats zu irischen oder anderen Themen griff - die stilistische Bandbreite seiner Gedichte ist erstaunlich. In seiner ersten Schaffensphase war er von den englischen Spätromantikern und Präraffaeliten, Dante Gabriel Rossetti vor allem, beeinflusst. Dementsprechend kultiviert Yeats zunächst einen melancholisch wohlklingenden Ton und fast narkotisierenden Rhythmus, der den Leser - besser: Zuhörer - wehrlos gegenüber dem Wort des Dichters macht.
 
In den späteren, seit der Jahrhundertwende erscheinenden Gedichtsammlungen löst sich Yeats mehr und mehr von seinen spätromantischen und präraffaelitischen Vorbildern. Die Metrik seiner Gedichte verzichtet nun oft auf einlullende Glätte, und die Sprache wird zunehmend präziser. Sie nimmt durch die Aufnahme umgangssprachlicher Elemente gelegentlich den Stil der frühen Gedichte T.S. Eliots vorweg. Doch in fast paradoxer Weise werden die Gedankenwelt und Symbolik seiner späten Lyrik komplexer, ja bis zur Unverständlichkeit esoterisch - im Wesentlichen das Verdienst seiner Ehefrau, die als spiritistisches Medium die ohnehin vorhandenen theosophischen und okkultistischen Neigungen des Dichters verstärkte.
 
Im Bereich des Schauspiels gilt Yeats als Erneuerer des »poetic drama« und - zusammen mit Lady Gregory - als Begründer des anglo-irischen Theaters. Diese beiden etablierten 1899 das »Irish Literary Theatre«. Dort wurden auch Yeats' - meist in Versen geschriebene - Dramen aufgeführt, die zunächst durchweg irische Themen mit zum Teil märchenhaften Elementen behandeln: beispielsweise »Gräfin Cathleen« (1892) und »Das Land der Sehnsucht« (1894). Den Streitern für das irische Theater wäre jedoch kein dauerhafter Erfolg beschieden gewesen, wenn auf den Spielplänen des »Irish National Theatre« (ab 1904 »Abbey Theatre«) nur die blutleeren Dramen Yeats' und die ziemlich banalen schwankhaften Einakter der Lady Gregory gestanden hätten. Yeats' wesentlicher Beitrag zum anglo-irischen Theater ist nicht sein dramatisches Oeuvre, sondern seine Entdeckung John Millington Synges - des einzigen wichtigen Dramatikers in jenem Kreis, wenn man von dem später hinzukommenden Sean O'Casey einmal absieht.
 
Yeats lernte Synge in Paris kennen und gewann ihn für die irische Sache und für das anglo-irische Theater. Dem Rat des Älteren folgend, besuchte Synge 1898 die vor der Westküste Irlands liegenden Araninseln, um dort den Alltag der abseits der modernen Zivilisation lebenden Fischer und Bauern zu studieren. Seine Beobachtungen, die er auf insgesamt fünf Reisen sammelte und 1907 veröffentlichte, lieferten ihm vielfältige Anregungen für die insgesamt sechs Dramen, die zu schreiben ihm in seinem kurzen Leben vergönnt war.
 
Synges Besuche der Araninseln bewirkten indes nicht, dass er wie sein Entdecker Yeats irische Folklore und alte gälische Legenden dramatisierte, sondern das Alltagsleben irischer Fischer und Bauern. Nicht die heroische Vergangenheit interessierte ihn, sondern die raue Gegenwart; nicht Yeats' »keltische Dämmerung«, sondern das helle Tageslicht; nicht Idealisierung, sondern realistische Darstellung. Lediglich sein letztes, auf dem Totenbett geschriebenes Drama »Deirdre of the Sorrows« (Deirdre von den Sorgen, 1910 postum uraufgeführt) behandelt einen alten irischen Sagenstoff.
 
Synges herausragende Bedeutung für das anglo-irische Theater lässt sich auf mehrere Gründe zurückführen. Zum einen erhebt ihn die Wahl verwegener Themen oder die kühne Behandlung des Stoffes weit über den Rang eines nur regional bedeutsamen Dramatikers. Seine oft kritische, satirische Haltung bewerteten die konservativen Nationalisten als eine Beschmutzung des irischen Nestes. Bereits sein erstes Stück »Die Nebelschlucht« (1903) erregte Anstoß: Dass eine Ehefrau mit einem Tramp durchbrennt, wurde als Verleumdung der irischen Frau missdeutet. Die antiklerikale Komödie »Kesselflickers Hochzeit« wurde erst gar nicht in Dublin aufgeführt, sondern in London (1909) - für einen geizigen, satirisch gezeichneten Priester war die irische Bühne noch nicht reif. Den größten Skandal aber bescherte ihm seine gelungenste, bis heute gern gespielte Komödie »Der Held der westlichen Welt« (1907). Während der ersten Aufführungen protestierten die Traditionalisten tumultuarisch gegen das negative Bild, das Synge angeblich von den irischen Bauern entwarf, die in seinem Stück einen vermeintlichen Vatermörder zunächst bewundern, diesen aber dann verachten, da sich herausstellt, dass der Totschlag misslungen war.
 
Zum anderen beziehen Synges Stücke ihre Wirkung aus der - bis dahin für ein irisches Publikum unerhörten - Sprache, die er seinen Figuren in den Mund legt und die deren Vitalität widerspiegelt: deutlich bis zur Grobheit, für damalige Verhältnisse freizügig, aber auch reich an Bildern und an jenen gälisch beeinflussten Satzmustern, deren Eigentümlichkeit ihn bereits auf den Araninseln beeindruckt hatte. Durch diese zwischen dem Englischen und dem Gälischen oszillierende Sprache wird in Synges Dramen die Verortung der anglo-irischen Dichtung zwischen beiden Kulturen deutlicher sichtbar als bei jedem anderen Autor der Irischen Renaissance.
 
Prof. Dr. Theo Stemmler

Universal-Lexikon. 2012.

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